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Details über komplexe Achtsamkeit

Entspannte Selbstregulation: Präsent sein

Unaufhörlich scannen unser Leib und Hirn, ob wir in Sicherheit oder bedroht sind. Unsere Aufmerksamkeit ist immer dann besonders geweckt, wenn es Störungen oder Ablenkung gibt. In einer Zeit pausenloser Informationsflut sind wir schnell verunsichert oder fühlen uns bedroht. Konzentration, Zentrierung und das Abwägen von Prioritäten fällt dann schwer. Die lebenswesentliche leibliche Unmittelbarkeit wird immer weniger geübt. So werden wichtige Signale, die wir von unserem Körper erhalten, für uns immer „unleserlicher“.

Sich den Raum zu geben, seine inneren Prozesse zu verfolgen, aktiviert im Gehirn Bahnen, die seine rationalen und emotionalen Seiten verknüpfen. Dies ist der einzige bekannte Weg, über den sich das Wahrnehmungssystem des Gehirns gezielt umstrukturieren lässt. Dadurch beüben wir die Selbstregulierung unseres Aktivierungsniveaus und unserer Aufmerksamkeit ebenso wie kinesiologische, kognitive oder kreative Fähigkeiten. Populär geworden sind diese Zusammenhänge durch die Forschung der Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) (dt.: Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion) und der Mind-Body-Medizin.

Wir wissen heute, daß in den meisten spirituellen Traditionen Meditationstechniken, Atem- und Bewegungstechniken entwickelt wurden, die das Tolerieren und Integrieren tiefgehender emotionaler und sensorischer Zustände erleichtern. Durch das Üben von Achtsamkeit lernen wir, den Fokus unserer Aufmerksamkeit selbstbestimmt zu lenken und sorgsam darauf zu achten, wie all unsere Empfindungen entstehen und vergehen. Dadurch lernen wir auch, unsere Empfindungen (=Fühlen als leibliches Phänomen) als das zu sehen, was sie sind: Vorübergehende Vibrationen. Inzwischen ist nachgewiesen, daß jenes Hirnareal, das entscheidend für unsere Gefühle in Bezug auf unseren Körper und uns selbst verantwortlich ist, aktiviert wird, je bewußter wir in Kontakt mit uns selbst sind. Dadurch ermöglichen wir uns nicht nur die Erfahrung liebevoller Selbstachtung, sondern entwickeln auch ein tieferes Mitgefühl für unsere Mitmenschen und unsere Umwelt.

Hier und Jetzt. Pause und Präsenz.

Das Leben ist voller Gegensatzpaare, zwischen denen es stattfindet und aus zwei Dimensionen die dritte bildet: Licht und Finsternis, Wärme und Kälte, das Ich und das Du, das So und das So, Ebbe und Flut… und so weiter. Wir als Individuen befinden uns mittendrin, drunter und drüber und dazwischen. Auch Bewegung besteht zwischen Gegensätzen, denn erst das Wechselspiel von muskulärem Dehnen und Zusammenziehen macht die Bewegung. Und Gegenwart besteht nur zwischen den Gegensätzen Eben-schon-vorbei (Vergangenheit) und Noch-nicht-da (Zukunft). Ohne Gegensätze gäbe es nichts – jedenfalls nichts Interessantes (lat.: inter=dazwischen und esse=sein). Gegensätze sind die Voraussetzung für Bewegung und Entwicklung. Zwischen Gegensätzen befinden sich die Übergänge vom Einen zum Anderen – hier und jetzt wird es erst richtig interessant: Komplexe Präsenz (körperlich präsent und geistig gegenwärtig sein) ist besonders in Übergängen möglich. Sie sind der Raum, in dem das Eine und das Andere aufeinandertreffen, hier findet Begegnung statt. Selbst Bewußtsein ist ein Ort der Begegnung: Es ist der Raum, in dem Körper und Seele einander berühren.

Mut zur Lücke

Wenn es zwischen dem Einen und dem Anderen interessant werden und Entwicklung geben soll, braucht es Wendungen (Kehrtwendungen, Kehren). Sonst bewegt sich nichts. Kehre heißt ursprünglich nicht „Mach‘ sauber!“, sondern Richtungswechsel (darum sind beispielsweise die Kurven von Bergstraßen als Kehren durchnummeriert). Das Besondere am Richtungswechsel ist, daß es eine Umorientierung bedeutet und gleichzeitig die Bewegung immer nach vorn gerichtet ist: Wie wir uns auch drehen und wenden und  wohin wir auch schauen – unsere Nase zeigt immer nach vorn. Entspannung ist nun auch immer genau in jenem Moment enthalten, an dem es noch keine Richtung gibt, ein Spannungswechsel aber möglich ist (auf „osteopathisch“ ein Fulcrum: engl.=Dreh- oder Wendepunkt). Es ist nur ein winziger Punkt, und doch ist er ganz entscheidend für das Vorwärtskommen. Es ist der Punkt, an dem Bewegung innehält, um von der einen in eine andere Richtung überzugehen. Am Beispiel des Phänomens Zeit ist das genau die Gegenwart. Sie ist die Lücke, in die hinein wir entspannen können. Je bewußter wir solche Lücken wahrnehmen, desto besser können wir entspannen.

Weder das eine, noch das andere. Einfach sein.

Einfach sein – dieser absichtslose und richtungsfreie Zustand ist das Ziel jeder Mediationsübung. Hier und jetzt – ganz leiblich und geistesgegenwärtig präsent. Sich mit jenem Punkt zwischen da und dort, nicht-mehr und noch-nicht immer wieder vertraut zu machen ist deshalb so heilsam, weil wir dadurch Geschmeidigkeit üben, und zwar körperlich, geistig und emotional. Geschmeidigkeit definiert sich aus dem Verhältnis zwischen Stabilität und Elastizität: Je besser diese beiden miteinander balancieren, desto geschmeidiger wird das Ganze. Die Atmung ist hierzu ein schönes Beispiel: Einatmen – Ausatmen – Pause… Die Wendung vom Aus- zum erneuten Einatmen geschieht in dieser Pause. Sie ist für die Atemdynamik wesentlich.

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