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Vom Lesen und Schreiben

Lesen, lesen, lesen! – Lesen heißt: Sprache lernen, Wörter lernen, mit der eigenen Phantasie umgehen (Peter Härtling)

In Amerika gibt es an einigen Schulen bereits ein neues Schulfach: „Deep reading“ – vertieftendes Lesen heißt es. Die alleinige Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, bewirkt noch nicht, sich auch vertiefend mit längeren Texten auseinandersetzen zu können. Es liegt auf der Hand: Kinder müssen lernen können, auch Texte von mehr Länge als SMS und Tweets ablenkungsfrei zu lesen. In unserer digitalisierten Zeit wird die Schreibschrift allmählich abgeschafft und uns droht das flüssige Schreiben und somit auch das flüssige Lesen abhanden zu kommen. Es wird immer notwendiger, die Not, die durch steigende Zusammenhangslosigkeit und Orientierungslosigkeit entsteht, zu wenden. Durch den Umgang mit Texten fängt es an. Am Anfang ist das Wort, aus Worten entstehen Wortfäden, die Textgewebe werden, aus denen sich schließlich Kommunikation mit Kontur entwickelt.

Lesen (von lat.: legere=sammeln, auswählen, lesen) hat auch damit zu tun, etwas zu erkennen. Es kommt in allen möglichen Wortzusammensetzungen vor: Z.B. ausflesen, handverlesen, Fährten lesen, Weinlese, eine Landkarte oder ein Verkehrsschild lesen u.a.. Ob eine reife Frucht oder den inhaltlichen Kern eines Gedankens – das Vermögen, es (auf)lesen (es also ernten, verarbeiten, aufnehmen und verstoffwechseln) zu können bedeutet, etwas zu erkennen und damit auch, etwas verstehen zu können: Verstehen geht nur in Zusammenhängen. Lesen und Schreiben hängen auch eng miteinander zusammen: Schreiben beispielsweise ist eine motorische Tätigkeit, die uns ermöglicht, im Gehirn Brücken zu bilden zwischen Eindrücken und unseren Ausdrucksmöglichkeiten. Und während wir mit der Hand schreiben, lesen wir das Geschriebene gleichzeitig – und wir lesen es tiefer. Eine sehr plastische, sehr leibliche Angelegenheit: Wir lesen , was wir geschrieben haben, gleichzeitig als etwas, das uns jetzt neu begegnet. Wir wissen, daß z.B. handschriftliche Mitschriften in der Schule oder einem Vortrag die Verarbeitung der Inhalte bewußter machen und vertiefen. Handschriftliches Notieren regt die Hirnaktivität an, während man sich durch das Tippen auf einer Tastatur eher an der Oberfläche bewegt. Die Inhalte handschriftlicher Notizen werden besser behalten als eingetippte Mitschriften auf dem Notebook.

Bei der Schreib- und Lesefähigkeit geht es also um viel mehr als um Alphabetisierung, denn die Tatsache, lesen und schreiben zu können bedeutet nicht unbedingt, ein ganzes Buch lesen oder einen Aufsatz schreiben zu können. So wie auch nicht jeder, der laufen kann, ansatzlos zu einem Marathonlauf imstande ist. Und selbst Laufen lernen wir nicht allein dadurch, daß wir Beine haben. Also braucht es auch zum Lesen oder Schreiben in längeren Textzusammenhängen Übung, denn Fähigkeiten können sich erst zu Fertigkeiten entwickeln, wenn sich mit ihnen eingehender befasst wird. Nur durch Übung kommen wir vom Laufenlernen über das lernen sozialer Kommunikation zu einem Handwerk oder anderen Beruf und am Besten zu einem zufriedenstellenden Leben. Und eben auch zum Lesen und Schreiben. Was nicht gebraucht wird, verkümmert, und zwar sowohl körperlich als auch geistig und emotional. Darum ist es so wichtig, diese Fähigkeiten nicht aufzugeben: Lesen, Schreiben, Rechnen – und Bewegen.

Lesen, Schreiben und Rechnen sind unsere wichtigsten Kulturfähigkeiten. Es ist ein Unterschied und bewirkt in uns ganz unterschiedliche Resonanzen, ob wir eine E-Mail schreiben, eine SMS oder einen handschriftlichen Brief oder eine Postkarte. So ist es auch etwas völlig anderes, ein Emoji, eine kryptische Abkürzung zu erhalten oder die differenzierte Beschreibung eines Gefühls. Es ist ein Unterschied, ob wir auf dem Hometrainer zwischen vier Wänden schwitzen und gegebenenfalls visuell noch etwas vorgespielt bekommen, oder ob wir hinausgehen und uns in der realen Umgebung oder in der Natur bewegen. Es ist etwas anderes, ein Buch in seinen Händen zu halten, darin zu lesen und zu blättern, das Papier zu riechen, die Geräusche der Fingerbewegungen auf den Buchseiten zu hören, oder ob man dabei auf einen leuchtenden Bildschirm guckt. Und es ist ein Unterschied, ob man beim Schreiben eine Tastatur bedient und jeden Buchstaben einzeln antippen muß oder ob man motorisch differenzierter betätigt und seine Gedanken mit einem Stift zu Papier bringt.

Fortschritt heißt vorankommen, bedeutet Entwicklung – ohne das, was einen ausmacht, aufgeben zu müssen. Sich vertiefen, um wieder auftauchen zu können, gehört zu Entwicklungsprozessen dazu und entspricht damit der wellenförmigen Bewegung des Lebens.

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